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Das Rätsel von Bilzingsleben

Mitten in Deutschland spürt ein Professor aus Jena den Ahnen des modernen Menschen nach. Seine Funde wühlen die Fachwelt auf: Kann es sein, dass schon der Homo erectus – 300 000 Jahre vor dem Erscheinen des Homo sapiens – ein soziales Leben pflegte?

Quelle: 
National Geographic, Mai 2000, Seite 145 ff.
Text: Jürgen Nakott

Geschichtsträchtig wölbt sich der Kyffhäuser aus der Ebene zwischen Harz und Thüringer Wald. In diesem Berg soll seit 810 Jahren Kaiser Friedrich I. Barbarossa ruhen und dereinst wiederkommen, um alle Probleme der Deutschen zu lösen. Ungleich tiefer in die Geschichte der Menschheit taucht ganz in der Nähe der Geologe und Paläontologe Dietrich Mania ab. Er ist in Bilzingsleben an der Wipper auf beinahe 400 000 Jahre alte Spuren frühmenschlicher Kultur gestoßen.
Eigentlich hatte der heute 61-Jährige nur fossile Muscheln suchen wollen. Aus der chemischen Zusammensetzung ihrer Schalen und dem Vorkommen bestimmter Arten schließen die Forscher auf das Klima vorgeschichtlicher Epochen – ein Thema, das schnell vergessen war, "als ich einen Spatenstich unterhalb der Muscheln auf den Fußwurzelknochen eines Waldelefanten stieß und daneben Werkzeuge aus Feuerstein fand", erinnert sich Mania. Das ist nun 31 Jahre her, aber immer noch spürt er bei seiner Erzählung die damalig Erregung, das "Herzklopfen bis zum Hals".

Während wir zum Grund der Grube hinabsteigen, wird es ihm trotz des schneidend kalten Windes warm. Er zieht seine verwitterte Lederjacke aus – rostrot wie der eisenhaltige Kalkstein, auf dem wir stehen – und redet fortan mit weit offen stehendem Jeanshemd. Seit 1969 hat er neben vielen zehntausend Tierknochen und Werkzeugen fossile Reste von drei Menschen aus dem Boden präpariert, kürzlich erst den Unterkiefer einer 370 000 Jahre alten Frau der Art Homo erectus.

Die Arbeit von 31 Jahren hat für ihn in diesem Acker das plastische Bild eines Dorfs entstehen lassen, einer Gemeinschaft von Frühmenschen, die planen, abstrakt denken und kooperieren konnten, die sich allem Anschein nach rund um einen gepflasterten Platz zu kultischen Handlungen zusammenfanden. Ein Bild allerdings, über das unter Anthropologen heftig diskutiert wird: Bilzingsleben ist einer der Brennpunkte der weltweiten Debatte über unsere Herkunft. Diskutiert werden zwei Modelle. Das eine steht für die Ansicht, der Homo sapiens habe sich in Afrika entwickelt, sei vor etwas mehr als 100 000 Jahren in die Welt aufgebrochen und habe mit seiner überlegenen Intelligenz ältere Hominidenarten in Europa und Asien verdrängt. Diese Fraktion sieht im Homo erectus kaum mehr als einen späten Affen.

Das andere Modell – das Mania favorisiert – geht davon aus, dass der Homo sapiens an vielen Orten der Erde aus dem Homo erectus hervorgegangen ist und ihn schließlich abgelöst hat. Nach dieser Hypothese haben viele zehntausend Jahre lang mindestens drei Menschenarten gleichzeitig auf der Erde gelebt: Homo erectus, Neandertaler und Homo sapiens. Und in Bilzingsleben glaubt Mania Anzeichen dafür gefunden zu haben, dass der Homo erectus schon vor 400 000 Jahren fortschrittliche Handwerkstechniken und soziale Kultur entwickelt hat, die andere Forscher erst dem viel jüngeren Homo sapiens zubilligen.

"Dabei muss man doch nur bereit sein zu sehen", fordert Mania. Zum Beispiel die Hände: Der Homo erectus, das zeigen die Skelettfunde, konnte – anders als die Menschenaffen – seinen Daumen schon den anderen Fingern entgegenstellen. Mit viel Gefühl fertigte er aus Knochen und Stein feine Geräte zum Schneiden, Sägen, Bohren, Schaben, Spalten und Stechen. "Um das zu erreichen, muss er planvoll vorgegangen sein", vermutet Mania.

Auf einer Pappe hat er Tausende von Fossilfunden eingezeichnet. Wo ich anfangs nur ein Gewimmel schwarzer Flecken sehe, zeigt er mir, welche dieser Punkte die Außenwände von Wohnstätten markieren, mit windabgewandtem Eingang, die Feuerstelle immer rechts. Davor hat Mania eine "Werkstattzone" ausgemacht, mit Rohmaterial aus großen Knochen und polierten Steinunterlagen für die Handwerker. Eine etwas entfernte Stelle deutet er als Schlachtplatz, wo die Männer ihre Beute zerlegten: Waldelefanten, Nashörner, Wildpferde. "Ihre Speere", sagt er, und es klingt, als wäre er persönlich stolz darauf, "sind perfekt ausgewogen und entsprechen den Erkenntnissen der modernen Ballistik". Um damit große Tiere gemeinsam zu jagen, hätten diese frühen Menschen etwas über deren Verhalten wissen müssen, über deren jahreszeitliche Gewohnheiten, und sie hätten ihr Tun absprechen müssen. Beweisen kann er das frühmenschliche Sprachvermögen nicht, aber für ihn ist es "zwingend logisch".
Hauptargument in Manias Theorie über die Kultur des Homo erectus von Bilzingsleben ist ein kreisförmiger Platz mit neun Meter Durchmesser, "eindeutig gepflastert". Meine Hände gleiten über rund geschliffene Backenzähne von Elefanten und Bibern, dazwischen eingelassen liegen Beckenknochen und die flachen Schulterblätter von Nashorn und Bison. An einem Ende des Platzes ist ein Amboss aus Stein zu erkennen, halbkreisförmig gesäumt von den Hörnern eines jungen Bisons. Die Anordnung erinnert an einen Altar. Neben dem Amboss fand Mania Teile eines zertrümmerten Schädels. Ansonsten war der Platz sorgsam von Werkzeugen und Abfällen freigehalten. "Welchen Zweck soll so ein Ort gehabt haben, wenn nicht für kultische oder soziale Handlungen?", fragt der Forscher.

Ob die Schädelteile auf Kannibalismus hinweisen oder auf erste Anzeichen von Ahnenkult, mit dem ein verdienter Dorfgenosse geehrt wurde? Die Frage ist Teil der aktuellen Spekulation um die Evolution des Menschen. Lange stand Bilzingsleben im Schatten anderer Fundorte frühmenschlicher Entwicklung, auch wegen seiner abgeschirmten Lage in der vormaligen DDR. Aber allmählich wird klar: Nicht nur in Afrika, auch hier, unweit des Kyffhäuser, sind noch viele Antworten auf die Frage nach unserem Ursprung zu finden.

Quelle: 
National Geographic, Mai 2000, Seite 145 ff.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von National Geographic Deutschland.

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letzte Änderung: 27. August 2004, © ungerweb